Thomas von Kempen: Denke an den Tod

Thomas von Kempen (Thomas a Kempis), *ca. 1380 in Kempen, + 1471 im Kloster Agnetenberg, Deutscher Mystiker und Theologe, dessen Meditationen sowohl in der katholischen wie der evangelischen Kirche wirksam blieben.

Das hier abgedruckte »memento mori«  stammt aus dem 1. Buch seiner »Nachfolge Christi« (imitatio christi), Buch 1 Kapitel 23.

Die Erinnerung an den Tod mitten im Leben gehört wiederum zu den »Übungen« christlichen Glaubens bis weit in die Neuzeit hinein. Es geht, wenn wir dies heute lesen, nicht notwendigerweise darum, alles genau so nachzufühlen, wie Thomas es schreibt; vielmehr ist die Frage zu bedenken, ob und wie sich unsere Sichtweise auf das Leben und den Tod ändern würde, wenn wir in ähnlicher Weise selbst den Tod mitten im Leben erwarten würden. 

23. DENKE AN DEN TOD

1. Bald wird es um dich geschehen sein; besinne dich deshalb, wie es um dich steht.
Heute lebt der Mensch, und schon morgen ist er entschwunden. Verschwand er aber einmal aus den Augen, wird er bald vergessen sein.
O blödes und hartes Menschenherz, das nur ans Heute denkt und das Morgen übersieht.
Du solltest immer so handeln und so denken, als müßtest du am gleichen Tage noch sterben.
Hättest du ein gutes Gewissen, so erschreckte dich der Tod nicht übermäßig.
Man würde besser tun, sich vor der Sünde zu hüten, als den Tod zu fliehen.
Bist du heute nicht bereit, wie willst du es morgen sein? Der morgige Tag ist ungewiß; wer weiß, ob du ihn erlebst.

2. Was hilft es, lange zu leben., wenn wir uns so wenig bessern?
Leider führt ein langes Leben nicht immer zur Besserung; bisweilen vermehrt es bloß die Schuld.
Hätten wir doch nur einen einzigen Tag ganz einwandfrei hienieden gelebt!
Viele zählen die Jahre seit ihrer Bekehrung; aber die Besserungsfrüchte sind zuweilen nur karg. Jagt einem der Tod Furcht ein, kann ein längeres Leben unter Umständen noch furchtbarer sein. Selig, wer die Scheidestunde immer vor Augen hat und sich täglich darauf vorbereitet. Wohntest du je dem Verscheiden eines Menschen bei, so bedenke, daß auch du denselben Weg gehen mußt.

3. In der Frühe mache dich darauf gefaßt, den Abend nicht zu erleben; am Abend versprich dir den kommenden Morgen nicht unbedingt.
Sei also immer bereit, und lebe so, daß dich der Tod nie unvorbereitet trifft.
Viele sterben plötzlich und unvorhergesehen , denn «der Menschensohn kommt, wenn ihr es am wenigsten erwartet». Schlägt aber die Scheidestunde, wirst du dein ganzes bisheriges Leben plötzlich mit andern Augen ansehen, und es tief bedauern, so nachlässig gelebt zu haben.

4. Glücklich und klug darf heißen, wer jetzt, während des Lebens, sich so verhält, wie er in der Todesstunde gewesen sein wollte. Großes Vertrauen auf ein gutes Ableben verschaffen: vollkommene Weltverachtung, der entschiedene Wille nach täglichem Fortschritt, Regeltreue, Bußfertigkeit, der Geist des Gehorsams, Selbstverleugnung sowie das Ertragen jeder Widerwärtigkeit Christus zulieb. Solange du gesund bist, kannst du viel Gutes wirken; aber einmal krank, bürge ich für nichts. Wenige werden durch Krankheiten besser, ähnlich wie die viel wallfahren, selten dadurch heiliger werden.

5. Verlaß dich nicht auf Freunde und Mitmenschen, und verschiebe die Sorge um dein Heil nicht auf morgen. Denn schneller als du meinst, werden dich die Menschen vergessen. Besser sich zeitig vorsehen und etwas Gutes vorausschicken, als auf anderer Hilfe bauen.
Bist du jetzt nicht für dich besorgt, wer wird es später für dich sein?
Die gegenwärtige Stunde ist überaus kostbar; jetzt sind «die Tage des Heiles da, die Gnadenzeit».
Ach, warum nützest du sie nicht besser aus, diese Zeit, in der das ewige Leben verdient werden kann?
Es kommt der Augenblick, wo du auch nur einen Tag, ja nur eine Stunde herbeiwünschest , um dich zu bessern, und wer weiß, ob sie dir gewährt wird.

6. Lieber Mitbruder, welchen Gefahren entrinnst du, welche Angst vermeidest du, wenn du nun immer gottesfürchtig lebst und des Todes gewärtig. Suche jetzt so zu wandeln, daß dir die Todesstunde eher zur Freude als zum Schrecken wird.
Lerne gegenwärtig alles verschmähen, damit du einmal ungehindert Christus entgegeneilen kannst. Züchtige büßend deinen Leib, so wird dich dereinst frohe Zuversicht bewegen.

7. Du Tor, was rechnest du mit einem langen Leben, wo dir kein Tag verbürgt ist? Viele zählten auf ein langes Leben, und täuschten sich, indem sie unerwartet abberufen wurden.
Hast du nicht schon oft gehört, dieser sei erstochen worden, jener ertrunken, ein dritter abgestürzt, ein anderer erstickt oder beim Spiel umgekommen? Die einen fallen dem Feuer zum Opfer, andere dem Schwert, der Pest, einem überfall. Alle enden mit dem Tod; schattengleich geht das Menschenleben vorüber.

8. Wer wird nach deinem Ableben noch an dich denken? Wer für dich beten?
Jetzt, viellieber, jetzt lege Hand ans Werk; tu was du kannst. Denn sowohl deine Todesstunde, als was dir nachher bevorsteht, bleibt dir unbekannt.
Sammle unvergänglichen Reichtum, solang es noch Zeit ist.  Nur dein Heil darf dir am Herzen liegen; sorge dich bloß um das, was Gottes ist. Gewinne jetzt Freund; indem du Gottes Heilige verehrst und nachahmst, auf daß sie dich bei deinem Hinscheiden «in die ewigen Wohnungen aufnehmen».

9. Benimm dich auf Erden als Pilger und Fremdling, den die Weltgeschäfte nichts angehen. Bewahre dein Herz frei und gotterhoben, denn «du hast hier keine bleibende Stätte». An Gott richte täglich unter Tränen dein Beten und Seufzen, damit dein Geist nach dem Tode glückselig zu ihm gelangen kann. Amen.

aus: Thomas von Kempen. Nachfolge Christi. Meditationen. Übersetzt von Hugo Harder, Düsseldorf/Solothurn 1979, 59-62.

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