Heute am Reformationstag erinnern wir uns an den Thesenanschlag Martin Luthers im Jahr 1517 Tatsächlich geben uns die 95 Thesen wichtige Hinweise, auch und sogar nach über 500 Jahren. Wir müssen sie nur richtig lesen und verstehen. Der Mann, der damals den Mut besessen hat, an die Türen der Kirchen seine Thesen zu heften, hat die Welt bewegt. Danach wehte ein anderer Wind. Uns verstört die Frage, ob wir mutig genug sind und auch etwas bewegen können, oder ob alle Mühe, alle Gedanken, alle Worte, alle Transparente, auch alle Gefahren umsonst und vergeblich sind. Auch dazu will ich euch etwas sagen.
- Woher nahm Martin Luther den Mut?
Es war nicht zuerst Mut. Er kannte das Gefühl der Angst wie jeder von uns. Es war zuerst seine innere Freiheit. Die hat er aus dem Glauben gewonnen. Am Schlosskirchenturm steht der Anfang des Liedes „Ein feste Burg ist unser Gott“, das ihr hier in Wittenberg zu eurem Motto gemacht habt. Am Ende der vierten Strophe heißt es: „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin, sie habens kein Gewinn. Das Reich muss uns doch bleiben.“ Das war eine klare Ansage: Sie können uns alles nehmen, aber unsere Seele bleibt in Gottes Hand. Darauf haben sie keinen Zugriff. Der greise Georg, Markgraf von Brandenburg, hat es als standhaftes Vorbild für uns dem Kaiser gegenüber 1530 beim Reichstag in Augsburg auf den Punkt gebracht: „Ehe ich mir das Wort Gottes nehmen lasse, und meinen Gott verleugne, will ich niederknien und mir den Kopf abhauen lassen.“[1] Da fiel dem Kaiser nichts mehr ein.
Und Martin Luther hat sich bei dem, was er vorhatte und als Aufgabe sah, auf Gottes Schutz verlassen, mit deutlichen Worten, die ihr auch für euch in Anspruch nehmen könnt, wenn ihr euch wie er damals von der Wartburg auf die Reise nach Wittenberg begebt. Er schrieb an Friedrich den Weisen: „ich komme gen Wittenberg in gar viel einem höhern Schutz denn des Kurfürsten. Ich hab’s auch nicht im Sinn, von E.K.F.G. Schutz zu begehren. Ja ich halt, ich wolle E.K.F.G. mehr schützen, denn sie mich schützen könnte“. Kurz: Lasst euch euer Gottvertrauen nicht nehmen!
- Was hat Martin Luther kritisiert
Mitnichten war Luther der Ansicht, Glaube sei Privatsache. Und er war intelligent und hochgebildet, nicht nur in Theologie und Kirchengeschichte, auch bezüglich des Finanzwesens, der Wirtschaft und Politik. Er hat kritisiert, dass die Reichen sich unter Missbrauch des Glaubens weiter bereichern wollten. Die 95 Thesen richten sich nicht nur theologisch gegen den Ablass, sondern massiv gegen den Handel mit dem Ablass zu Lasten der Armen. Er hatte wirklich die Menschen und das Land im Blick! Das machte ihn, seine Thesen und Schriften so gefährlich. Er hatte die Methodik durchschaut und 1517 am Mittel des Ablasses konkret angeprangert. Die Methoden sind durch die Jahrhunderte gleich geblieben, bis heute, nur die Mittel werden ausgetauscht. Denkt das jetzt mal beim Zuhören mit.
- These: „Derhalben sind die Schätze des Evangeliums Netze, da man vorzeiten die reichen wohlhabenden Leute mit gefischt hat.“ Ihr müsst euch das so vorstellen: Die Reichen sind wie Schiffbrüchige, die drohen, in ihrem Geld unterzugehen. Sie werden mit dem Netz des Evangeliums gerettet. Und nun die 66. These: „Die Schätze aber des Ablasses sind die Netze, damit man jetziger Zeit die Reichtümer der Menschen fischt.“
Im Großen Katechismus wird er zum 7. Gebot „Du sollst nicht stehlen.“ noch deutlicher: „Da betrügt einer den anderen öffentlich mit falscher Ware, falschem Maß, falschem Gewicht, falscher Münze“ – zur Erklärung: Falsche Münze ist, wenn im Geld nicht so viel Gold enthalten ist, wie draufsteht und man so vielmehr Geldstücke prägen kann. Mit Papiergeld geht das natürlich noch viel besser. Man nennt es Inflation. – und weiter: “man übervorteilt mit List und seltsamen Finanztricks oder mit tückischen Geschäftskniffen“. Und er schreibt, wer sie sind, wörtlich: „die großen, gewaltigen Erzdiebe, mit denen die Herren und Fürsten gemeinsame Sache machen, und die nicht bloß eine Stadt oder zwei, sondern ganz Deutschland täglich ausstehlen.“ Und wie machen die das? „… wo man täglich die Armen übervorteilt und neue Beschwerung und Teuerung hervorruft.“ Luther hat es erkannt: Die Teuerung ist kein Zufall, sie wird hervorgerufen!
Und er hat natürlich einen Rat zur Besserung: 46. These: „Man soll die Christen lehren, dass sie, wo sie nicht übrig reich sind, schuldig sind, was zur Notdurft gehöret, für ihr Haus zu behalten, und mitnichten für Ablaß zu verschwenden.“ Und ich meine, das gilt nicht nur für das Haus des Einzelnen, es gilt auch für ein Gemeinwesen in jeder Hinsicht. Wer Verantwortung übernommen hat, hat das Geld, solange wir nicht im Überfluss leben, zuerst für das eigene Haus, die eigenen Hausgenossen und das eigene Land einzusetzen.
Da gäbe es noch viel zu sagen und zu zitieren. Eines sei mir noch gestattet. Die Ablassbriefe waren so wenig evidenzbasiert, wie manches angepriesene Rettungsprodukt heute auch. Aber immerhin waren sie nicht gesundheitsschädigend. Jedenfalls habe ich in Luthers Schriften nichts gefunden über ein Post-Ablass-Syndrom, Ablass-Thrombosen, Auto-Ablass-Immunschwächen. In den Schriften der Papisten von damals habe ich gar nicht erst danach gesucht, die hätten das sowieso verheimlicht oder als Verschwörungserzählung abgetan. Das war die Überleitung zum nächsten Thema:
- Was geschah mit den Kritikern?
Kennt jemand irgendeinen, der in diesen Tagen wegen seiner Kritik Probleme bekommen hat? Wenn nicht, könnte ich mir das jetzt nämlich sparen.
- These: „Diese der Layen sehr spitzige Argumente, allein mit Gewalt wollen dämpffen, und nicht durch angezeigten Grund und Ursache auflösen, heißt die Kirche und Pabst den Feinden zu verlachen darstellen, und die Christen unselig machen.“ Ein paar Monate später, im Jahr 1518 schrieb Martin Luther erläuternd genau zu dieser These: „Denn so wird übel ärger gemacht, wenn den Leuten durch Schrecken das Maul gestopft wird. Weit besser wäre es ja, wenn … man den Zorn Gottes merken und zu Herzen nehmen … und diese Dinge, in Hoffnung einer bevorstehenden Reformation, erdulden – also anhören – würde, als dass man das Übel ärger macht, indem wir die Leute zwingen wollen, dass sie so offenbare Fehler für Tugenden ansehen sollen.“
Auch heute werden unsere „sehr spitzige Argumente mit Gewalt gedämpft“ und den Leuten mit „Schrecken das Maul gestopft“ anstatt sich der Kritik vollumfänglich zu stellen. Wie sieht der Schrecken zum Maulstopfen aus? Da werden Arztpraxen polizeilich durchsucht, Kritiker ihrer Ämter enthoben, mit Bußgeldverfahren und Disziplinarverfahren überzogen, ihr Ruf medial geschädigt, Menschen, die nicht mitmachen, mit dem Verlust ihrer Arbeitsplätze gedroht, Demonstranten eingekesselt.
Und genau da stellt sich die verstörende Frage, ob es den Einsatz angesichts der Nachteile lohnt und welcher Geduld es bedarf.
- Wo sind die Grenzen unserer Wirksamkeit und was ist unsere Aufgabe?
Martin Luther 1518 in der Erläuterung zur 89. These: „Dass ich es kurz und getrost heraus sage: Die Kirche hat eine Reformation vonnöten; und das ist das Werk nicht eines einzigen Menschen, als der Pabst ist, noch auch vieler Cardinäle, … sondern der ganzen Welt, ja ein Werk, das für Gott allein gehöret. Die Zeit aber, wann solche Reformation vor sich gehen wird, die weiß derjenige allein, der die Zeit geschaffen hat. Unterdessen können wir so offenbare Fehler nicht leugnen.“
Was können wir für uns aus diesen Worten gewinnen? Wenn wir erkennen, dass es einer Reformation bedarf, ist diese nicht von den Mächtigen zu erwarten, auch nicht von einzelnen Personen, auch keiner von uns kann oder muss das allein leisten. Es ist eine Aufgabe der ganzen Welt und zugleich doch Gottes Werk. Das kann uns, unsere Seele zuerst einmal entlasten. Eine wichtige Aufgabe aber bleibt uns: Die offenbaren Fehler können wir nicht leugnen. Wenn also um uns herum Verhaltensweisen praktiziert werden, die sich offenbar als Fehler erweisen, können wir nicht mitmachen. Das ist unser Beitrag, den wir aus dem Ereignis des Thesenanschlags ableiten und der zweierlei bedarf: eines wachen Verstandes, um zuerst die Fehler zu erkennen, und eines frischen Mutes, sich zu verweigern. (CA 16: „Wenn aber der Obrigkeit Gebot ohne Sünde nicht befolgt werden kann, soll man Gott mehr gehorchen als den Menschen.“)
Was das Nichtleugnen der Fehler bewirken kann, beschreibt Martin Luther – noch als Mönch – 1518 gleich in den folgenden Sätzen der Erklärung zur 89. These mit der ihm eigenen, kraftvollen Bildsprache, nicht ohne eine Portion Ironie: „Der Damm hat einmal ein Loch gewonnen, und es stehet nicht bey uns, die ausbrechende Flut aufzuhalten.“
Damals entstand ein entscheidendes Loch im Damm der Lügen und des Betrugs – in Wittenberg. Und daneben stand ein Mönch, an dem man von der Seite der Mächtigen die Erwartung hatte, er müsse aus Abhängigkeit oder Loyalität das Loch zu verschließen. Aber er stand daneben, zuckte mit den Schultern und meinte, es stehe nicht bei ihm, es zu stopfen. Ich glaube, ich könnte das auch nicht.
In diesem Sinne wünsche ich Euch einen frischen Mut. Falls ihr irgendwo ein Loch im Damm entdeckt, zeigt es den anderen. Last euch von niemandem euern Martin Luther schlechtreden oder gar wegnehmen. Vertraut dem gottgewollten und gottgegebenen Leben und bleibt ihm treu! Gott segne euch!
[1] Bainton, Martin Luther: S. 273