Theologisch-ethische Betrachtungen zur 2G-Regel in der Covid-19-Pandemie

Stephan Birkholz-Hölter

Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen

Durch die sog. 2G-Regel sollen möglichst große Freiheiten für Geimpfte und möglichst große Sicherheit für alle miteinander vereint werden. Der Preis dafür ist, dass Menschen, die weder geimpft noch genesen sind, von eigentlich selbstverständlichen Dingen ausgeschlossen werden.

Das verlangt nach einer ethischen Betrachtung nebst der Frage, wie Kirche und Christen mit der Anwendung der 2G-Regel umgehen können. Nach Artikel 3 der Barmer Theologischen Erklärung hat die Kirche mit all ihrem Tun und auch ihren inneren Ordnungen die Liebe Gottes in der Welt zu bezeugen. Und die setzt zunächst beim bedingungslosen Annehmen des Nächsten an, nicht bei seinem Ausschluss (vgl. Überschrift (Joh 6,37 – Jahreslosung 2022)).

 

  1. Frage nach der Begründungs- und Beweispflicht

Der Normalzustand in einer Gesellschaft, die die Menschenrechte grundsätzlich achtet, ist der der Gleichberechtigung aller. Jede Abweichung davon bedarf einer Begründung. Zwar gehört zur Gleichberechtigung nicht nur, dass Gleiches gleich, sondern auch Ungleiches ungleich behandelt wird, dies jedoch ebenfalls zum Wohle aller, also auch und zumeist gerade der ungleich Behandelten. Darüber hinaus kann Ungleichbehandlung auch dann gerechtfertigt sein, wenn sie tatsächlich eine Gruppe von Menschen faktisch benachteiligt. Dafür muss jedoch der der Nutzen unzweifelhaft höher sein als der Schaden. D.h. die Begründungspflicht für Einschränkungen und Ungleichbehandlungen liegt grundsätzlich bei der Seite, die diese Maßnahmen befürwortet. Speziell für die 2G-Regel bedeutet das: Ungeimpfte und Ungenesene müssen nicht begründen, warum sie an denselben Teilen des öffentlichen Lebens teilhaben wollen, wie Geimpfte und Genesene, sondern ihnen muss nachhaltig begründet werden, warum ihnen dies verwehrt wird. Die Einzelheiten der Begründung müssen nachvollziehbar und darin enthaltene Behauptungen überprüfbar sein. Hinzu kommt das Gebot der Verhältnismäßigkeit der daraus abgeleiteten Konsequenzen. Dieses kann aus der Sicht christlicher Ethik beispielswiese an Hand von Mt 7,2 überprüft werden: Mit welchem Maß jemand misst, mit dem muss er/sie auch bereit sein, sich selbst messen zu lassen. Zu unterscheiden ist im Folgenden die Begründung für die Einführung der 2G-Regel von der für ihre Anwendung. Denn insbesondere die Frage, wer begründen muss, ist jeweils unterschiedlich zu beantworten.

  1. Argumentationslinien für die Einführung der 2G-Regel

Für die Einführung der 2G-Regel ist ausschließlich der Staat verantwortlich. Allein er ist daher auch in der Begründungspflicht. Aus theologischer Sicht ist es seine Aufgabe, Recht und Ordnung, Sicherheit und inneren Frieden zu gewährleisten. Über diese Funktion hinaus steht es ihm nicht zu, selbst zur einzig-bestimmenden Macht und Ordnung des menschlichen Lebens zu werden (Barmer Theol. Erklärung, Art. 5). Eine Begründung müsste also auch zu diesen Funktionen des Staates passen.

Im Zuge der Einführung gab es von Seiten der 2G-Befürworter zwei Argumentationslinien, die beide daraufhin zu hinterfragen sind, ob sie die notwendige Begründung für die faktische Ungleichbehandlung liefern.

2.1. Privilegien

Die erste Argumentationslinie will denjenigen, die bereit waren, sich zum Wohle aller impfen zu lassen, gewisse Privilegien zugestehen. Dabei ist zu fragen, inwieweit die Impfung dem Wohle aller dient, sowie ob und welche Privilegien dafür gerechtfertigt sind. Grundsätzlich sieht christliche Ethik eine Privilegierung auf Grund von guten Werken nicht vor. Im Gegenteil: Gutes nur um einer Belohnung willen zu tun ist wenig besser als Böses nur aus Angst vor Strafe zu meiden. Wirklich gut ist eine Tat erst dann, wenn sie selbstlos erfolgt (Röm 12,8 u.a.). Das Gefühl, durch die Impfung besser geschützt zu sein als ohne sie, sollte jedem, der sich aus Überzeugung in der Sache impfen lässt, eigentlich als Privileg reichen.

Aber dient die Impfung überhaupt dem Allgemeinwohl und wenn ja, wie weit? Grundsätzlich sind Impfungen ja erst sekundär zum Schutz der Allgemeinheit da, primär hingegen zum Schutz des Einzelnen. Trotz dieser Einschränkung kann zwar gesagt werden, dass die Impfung vermutlich folgende Nutzen für die Allgemeinheit hat: 1. Geimpfte infizieren sich insgesamt seltener und können daher auch seltener andere anstecken. 2. Geimpfte infizieren sich seltener schwer und belasten daher weniger das Gesundheitssystem. Beides gilt aber wiederum gerade bei diesen Impfstoffen und dieser Krankheit im Vergleich mit anderen offensichtlich auch nur eingeschränkt.

Letztlich führt sich aber die gesamte erste Argumentationslinie dadurch selbst ad absurdum, dass sie die Rückgabe von Grundrechten als Privilegien bezeichnet. Hier geschieht genau die unzulässige Umkehrung der in Abschnitt 1 beschriebenen Begründungspflicht. Grundrechte heißen Grundrechte, weil es Rechte sind, die einem Menschen grundsätzlich und bedingungslos zustehen (Art. 1 (2) GG).

Die Erfüllung von Bedingungen zu fordern (in diesem Falle die Impfung), bevor Grundrechte gewährt werden, widerspricht dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit; sowohl im Sinne christlicher Ethik (Die Menschenwürde wurzelt in der Gottebenbildlichkeit nach Gen 1,27) als auch des Grundgesetzes (Art. 1 (3)) oder der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (Art. 1).

2.2. Grundrechte

In der zweiten Argumentationslinie geht es um die Rückgabe von Grundrechten, weil es für deren Beschränkung gegenüber Personen, von denen keine (oder kaum eine) Gefährdung ausgeht, keine ausreichende Begründung mehr gibt. Dazu wäre dann allerdings zu fragen, ob a) von Geimpften wirklich eine deutlich geringere Gefährdung ausgeht als von Ungeimpften, und wenn ja, ob die auch dann gilt, wenn die Ungeimpften getestet werden.

a) Vergleich des Gefahrenpotenzials durch Geimpfte und Ungeimpfte

Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Impfung einen gewissen Nutzen hat. Das haben Untersuchungen schon vor der Zulassung der Impfstoffe bestätigt. Und ohne dies hätte es keine Zulassung gegeben, auch keine bedingte. Je nach Impfstoff und je nach Informationsquelle wird die

Wirksamkeit mit einer Zahl zwischen 60% und 90% angegeben.

Wichtig zu wissen, ist im Folgenden, was diese Zahl bedeutet: In den Testphasen vor der Zulassung gab es jeweils zwei Gruppen von Probanden, von denen die eine das Vakzin, die andere ein Placebo bekam. Dann wurde abgewartet, wieviele Probanden sich zufällig infizieren. Fanden sich 60% davon in der Placebo-Gruppe, so wurde dem Vakzin eine Wirksamkeit von 60% attestiert; fanden sich 90% der Infizierten in der Placebo-Gruppe, wurden 90% Wirksamkeit ausgewiesen, usw. Eine Wirksamkeit von 90%, wie sie insbesondere dem Impfstoff von Biontech häufig attestiert wird, wäre erfreulich hoch, würde aber immer noch bedeuten, dass sich 10% der Infizierten unter den Geimpften fanden, und dies nach relativ kurzer Zeit, weil die Testphasen ja nicht lange dauerten. Je länger der Impfstoff nun schon im Einsatz ist, desto mehr scheint sich das Verhältnis aber zu Ungunsten der Vakzin-Wirksamkeit zu verschieben. Sie müsste nach unten korrigiert werden.

Auch Geimpfte können also erkranken, das Gesundheitssystem belasten und zur Verbreitung des Virus beitragen, und zwar in größerem Maße als anfangs angenommen. Für die Begründung einer Impfpflicht reicht dies angesichts der zugleich auch noch vergleichsweise unbekannten Risiken der Impfung nicht. Deshalb ist es richtig, dass dieser Weg nicht gegangen wurde und die Impfung freiwillig bleibt.

Nichtsdestotrotz ist aber immer noch eine Wirksamkeit vorhanden, weshalb auch festzuhalten ist: Von Geimpften geht zunächst eine signifikant geringere Ansteckungsgefahr aus als von Ungeimpften. Die zweite Frage ist jedoch, ob dies auch dann noch gilt, wenn die Ungeimpften getestet sind. Anders ausgedrückt: Was ist sicherer: Impfung oder Test.

b) Vergleich des Gefahrenpotenzials durch Geimpfte und Getestete

Dies lässt sich am besten anhand eines konkreten Beispiels überprüfen: Gehen wir von einem Inzidenzwert von 100 aus. Er bedeutet, dass sich 100 von 100.000 Personen in einer Woche infiziert haben. Nehmen wir den Schnelltest von Clungene, der eine Sensitivität von 91,4% hat1, was bedeutet, dass so viele Infizierte Personen auch tatsächlich in Form eines positiven Testergebnisses gefunden werden. Und nehmen wir als Impfstoff z.B. den von Biontech und gehen von einer Wirksamkeit von 90% aus, was (wie oben gezeigt) eher zu hoch als zu niedrig angesetzt ist.

Wenn nun von den 100.000 Personen alle getestet würden, würde der Test 91 der 100 Infizierten erkennen und nur 9 würden mit einem falsch-negativen Ergebnis weiterhin unerkannt infiziert herumlaufen und andere gefährden. Ist hingegen die Hälfte der Personen geimpft, so finden sich 10 der 100 Infizierten unter den Geimpften. Wenn diese alle nicht mehr getestet werden, steigt allein dadurch die Anzahl der unerkannten Infizierten von 9 auf 10. Hinzu kommen die, die als Ungeimpfte weiter getestet werden aber ein falsch-negatives Ergebnis haben. Das wären nochmals 8. Macht zusammen 18 und damit fast doppelt so viele wie bei einer Testung aller.

Fazit: Schon allein dadurch, dass Geimpfte nicht mehr getestet werden, steigt die Gefährdung insgesamt auf das Doppelte. Sperrt man durch eine 2G-Regel die Ungeimpften aus, so ist selbst in der 2G-Zone die Gefahr noch leicht erhöht gegenüber einer Zone mit allgemeiner Testpflicht für alle. D.h. die Testung bietet definitiv mehr Sicherheit als die Impfung2. Von getesteten Ungeimpften geht eine geringere Gefahr aus als von Ungetesteten insgesamt, egal ob geimpft oder nicht. Damit fällt die o.g. Begründung für die Einführung der 2G-Regel weg.

  1. Einzelargumente für die Anwendung von 2G

Für die Anwendung der 2G-Regel sind, solange es sich um eine Möglichkeit handelt, die Betreiber der Bereiche und Veranstaltungen verantwortlich, in denen diese Regel gilt. Daher liegt die Begründungspflicht hierfür bei ihnen.

1 Der Packungsbeilage sind mehrere Sensitivitäts-Werte zu entnehmen. Sie schwanken mit dem CT-Wert. Zu Ungunsten des Tests wurde für diesen Vergleich der niedrigste angegebene Sensitivitäts-Wert angenommen.

2 An diesem Gesamtergebnis ändert sich (trotz anderer Zahlen im Einzelnen) auch nichts, wenn man die Parameter (Impfstoffwirksamkeit, Test-Sensivität, Inzidenzwert, Impfquote) verändert. Ich habe es überprüft.

3 Wo die Anwendung der 2G-Regel durch staatliche Verordnung zur Pflicht wird, geht die Begründungspflicht natürlich zurück an den Staat.

Auch die Argumente der Anwender der 2G-Regel sollen daher auf den Prüfstand kommen, wobei allerdings die Annahme, sie sei grundsätzlich sicherer als etwa die 3G-Regel nun bereits als entkräftetbetrachtet werden kann.

a) Argument der Verlaufsschwere

Der Feststellung, dass von Getesteten kein größeres Ansteckungsrisiko ausgeht als von Geimpften, sondern umgekehrt, könnte nun noch mit dem Hinweis widersprochen werden, dass Geimpfte im Falle einer Infektion statistisch nachweislich ein deutlich geringeres Risiko für einen schweren Verlauf haben als Ungeimpfte. Und daran ändert in der Tat auch der Test nichts.

Hierbei wird jedoch vergessen, dass es bei der 2G-Regel nicht um das Ausmaß der Krankheit geht, sondern um die Ansteckungsgefahr für andere. Für seinen Selbstschutz gegen schwere Verläufe ist jeder selbst verantwortlich. Gesetzgeber, Veranstalter oder andere Dritte sind bestenfalls dazu berufen, ihn zu ermöglichen, aber nicht zu erzwingen (Barmen V, s.o.). Bei Maßnahmen, die eine Ungleichbehandlung implizieren, muss es um den Fremdschutz gehen.

Und die Belegung der Intensivstationen durch Ungeimpfte, die dort anderen die Betten wegnehmen? Wollte man damit eine Ungleichbehandlung begründen, müsste sie auch für jeden anderen Menschen gelten, der ein erhöhtes Lebensrisiko in irgendeinem Lebensbereich für sich in Kauf nimmt.

b) Argument der Freiheit

Gerne wird darauf verwiesen, dass die 2G-Regel selbst gewisse Freiheiten, wie Wegfall der Maskenpflicht u.ä. ermöglicht. Das wirkt sich so attraktiv aus, dass viele nicht trotz, sondern wegen dieser Regel entsprechende Orte aufsuchen. Aber es ist ein Zirkelschluss: Man stellt Bedingungen dafür auf, dass bestimmte Einschränkungen wegfallen können, und nimmt dann den Wegfall dieser Einschränkungen als Begründung für die Bedingungen.

Ein nochmal etwas anderer Ansatz liegt in der Behauptung, Menschen, die sich nicht gegen Sars-Cov-2 impfen lassen, würden sich ihrerseits auf einen einseitigen und egoistischen Freiheitsbegriff berufen. Aber jemandem, der etwas Freiwilliges nicht macht, einen falschen Freiheitsbegriff vor werfen und dasals Begründung nehmen, um ihm dann Freiheiten vorzuenthalten, ist zynisch.

c) Argument der eigenen Entscheidung

Immer wieder wird auch das Argument bemüht, Ungeimpfte hätten es ja schließlich selbst in der Hand. Nicht die Anwender der 2G-Regel schlössen Ungeimpfte aus, sondern diese sich selbst. Nach diesem Muster hat die DDR-Führung Menschen benachteiligt, die nicht in die Partei eintreten wollten. Hier

wird wieder einmal übersehen, bei wem nach rechtsstaatlichen Prinzipien die Begründungs- und

Beweispflicht liegt.

d) Argument der Wirtschaftlichkeit

Durch den wirtschaftlichen Druck, der auf manchen „freiwilligen“ Anwendern der 2G-Regel lastet, kommt noch einmal eine neue Dimension ins Spiel. Unternehmer, die in Folge zweier Lockdowns und anderer Maßnahmen dringend darauf angewiesen sind, verloren gegangene Umsätze wieder rein zu holen, müssen danach entscheiden, unter welchen Bedingungen dies am besten möglich ist. Es muss also in diesem Falle unterschieden werden zwischen der Richtigkeit der Anwendung der 2G-Regel und der Schuld des Anwenders. Für den Staat als Urheber der 2G-Regel kommt hier noch eine zusätzliche Verantwortung ins Spiel: Er wird sich möglicherwiese darauf berufen, dass die Anwendung der 2G-Regel ja ihrerseits freiwillig ist. Jedoch ist die Freiwilligkeit durch den wirtschaftlichen Druck zunichte gemacht. Durch ihn wird die Möglichkeit zur Notwendigkeit. D.h. der Staat nötigt im Endeffekt Unternehmer zur Anwendung einer in sich unbegründeten Regelung. Die Behauptung von Freiwilligkeit wird zum Verstoß gegen das 8.Gebot, da sie wider besseres Wissen geschieht.

e) Argument der Solidarität

Nach diesem Argument werden aus Solidarität mit Menschen, die sich nicht gegen Covid impfen lassen können oder dürfen, diejenigen ausgesperrt, die es nicht wollen. Und in der Tat sieht die Anwendung ja Ausnahmen für diejenigen vor, die sich nicht impfen lassen können oder dürfen. Nach den Gründen der anderen wird allerdings nicht gefragt.

Würde man dasselbe Argument aber bei einem weniger angstbeladenen Thema anwenden, würde jedem auffallen, dass es ein Widerspruch in sich ist, eine Regel, mit der Menschen von etwas  ausgeschlossen werden, ausgerechnet unter Berufung auf „Solidarität“ begründen zu wollen. Aber davon abgesehen ist die Begründung auch sachlich falsch, denn es nützt den Personen, die sich nicht impfen lassen können oder dürfen, ja nichts, wenn sie sich in eine Zone begeben, in der sich außer ihresgleichen nur Ungetestete bewegen, von denen sogar eine größere Ansteckungsgefahr ausgeht als von Getesteten.

  1. Fazit

Die 2G-Regel stellt einen tiefen Eingriff in die Grundrechte der freien Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 GG), der Gewissensfreiheit (Art. 4 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der freien Berufsausübung (Art. 12 GG) und den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 GG) dar. Sie schließt Menschen von eigentlich selbstverständlichen Dingen aus, spaltet Gruppen, verkompliziert den Alltag und hat das Potenzial, zu gesellschaftlichem Unfrieden zu führen. Menschen erleiden durch sie soziale, finanzielle, psychische und berufliche Nachteile. Diesen Schäden steht keinerlei Nutzen gegenüber. Eine ausreichende Begründung für diese Abweichung von der Norm ist daher nicht möglich. Ohne sie aber ist der durch die 2G-Regel erfolgte Ausschluss von Personen willkürlich und damit eine Verletzung der Würde der Betroffenen. Hier hat der Staat nicht nur versäumt, diese Würde zu schützen, was seine Pflicht wäre (Art. 1 (1) GG), sondern sogar selbst die Grundlage für ihre Verletzung geschaffen.

  1. Konsequenzen für kirchliches Handeln

Kirchliches Reden und Handeln geschieht auf der Grundlage des Auftrags der Kirche, das Evangelium von der Liebe Gottes zu bezeugen, und vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes. Dazu gehört, dass sich die Botschaft an alle Menschen richtet (Mt 28,18-20) und das sie vor Gott auch alle gleich sind (Gal 3,26 ff).

Wie im weltlichen Bereich, ist auch hier eine Ungleichbehandlung durch diesen Grundsatz nicht ausgeschlossen, bedarf aber ebenso einer sehr guten Begründung. Für den Fall, dass Ungeimpfte sich testen lassen, fällt diese Begründung weg. D.h. die 2G-Regel darf im kirchlichen Raum nicht zum Einsatz kommen. Wo dies doch geschieht, verletzt sich der Leib Christi selbst, denn „wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit“ (1. Kor 12,26). Und es kann auch kein Glied einfach zum anderen sagen: Ich brauche dich nicht (1. Kor 12,21); kann also kein anderes ausschließen.

Genau wie für Gastronomen u.a. ergibt sich allerdings auch für einige kirchliche Einrichtungen ein wirtschaftlicher Druck (vgl. Abschnitt 3 d). Hier wäre dann echte Solidarität gefragt, indem andere für diese Einrichtung mit einspringen, mit geradestehen und alles in ihrer Macht Stehende tun, um es dieser kirchlichen Einrichtung zu ermöglichen, auch ohne 2G wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Auch hier müssten alle Glieder mitleiden, wenn eines leidet. Helfen könnten die Umschichtung von Geldern oder gesonderte Sammlungen.

Eine Anwendung der 2G-Regel im kirchlichen Bereich muss vermieden werden, wo es nur geht. Für Verkündigung und Seelsorge im engeren Bereich, ist dies zum Glück auch weitgehend unstrittig, und wird von den Kirchenleitungen m.W. nachdrücklich empfohlen. Aber es muss auch für andere kirchliche Veranstaltungen und Einrichtungen gelten, denn Kirche steht in ihrer Gesamtheit für das Zeugnis von der Liebe Gottes. Man kann nicht predigen „Klopfet an, so wird euch aufgetan,“ (Lk 11,9) und selbst Menschen die Tür vor der Nase zuschlagen. Auch wird man unsereins nicht als Jünger Jesu erkennen, wenn wir einander grundlos die Liebe verweigern (Joh 13,35).

Darüber hinaus ist Kirche aber auch Teil der Gesellschaft und an sie gewiesen. Als solche kann sie im Falle von Unrecht nicht einfach wegsehen und tut es in anderen Bereichen ja auch nicht. Schon aus der Goldenen Regel (Mt 7,12) folgt, dass bei offenbarem Unrecht einzuschreiten ist, denn jeder, der selbst Unrecht leidet würde ja auch wollen, dass seine Mitchristen dies für ihn tun.

Konkret müsste das so aussehen, dass Kirche zunächst zur Aufklärung beiträgt. Es ist davon auszugehen, dass viele Menschen die 2G-Regel befürworten, weil sie sie für sicherer halten als die 3G-Regel. Dass dies nicht der Fall ist, muss erstmal bekannt werden. Sodann sind die Befürworter von 2G auf ihr falsches Verständnis von Freiheit und Solidarität hinzuweisen. Aufklärung gehört auch zur Beachtung des 8. Gebots, weil das Kursieren von Lügen und Irrtümern falsches Zeugnis ist, dem es entgegenzuwirken gilt. Schließlich und endlich aber gilt es auch, denen, die unter der 2G-Regel leiden und die durch sie benachteiligt werden, beizustehen und von staatlichen Organen aktiv die Abschaffung dieses Unrechts zu fordern. Das ist Teil des Gebots der Nächstenliebe, das zusammen mit der Liebe zu Gott das höchste Gebot überhaupt ist (Mt 22,37-40).

  1. Aktualisierung

Der vorstehende Aufsatz wurde im November 2021 verfasst und bis einschließlich Abschnitt 5 im Januar 2022 im Deutschen Pfarrerblatt veröffentlicht. Leider ändert sich die Lage der Dinge und ändern sich insbesondere die politischen Reaktionen darauf in dieser Krise so schnell, dass zum Zeitpunkt der

Veröffentlichung einiges schon wieder überholt war. Zu ergänzen wäre vor allem Folgendes:

1) Mittlerweile gibt es in vielen Bereichen neben der 2G-Regel auch die 2G+-Regel. Für diese gilt, dass sie eine höhere Sicherheit bietet als die 2G-Regel, weil alle Personen getestet sind. Damit bietet sie auch eine höhere Sicherheit als die 3G-Regel, weil bei dieser ja nur die Ungeimpften getestet sind. Auf den ersten Blick könnte also jetzt das Argument der deutlich größeren Sicherheit greifen, so dass eine Begründung für die Ungleichbehandlung doch möglich wäre.

Bei näherem Hinsehen jedoch zeigt sich: Die größere Gefahr bei 3G gegenüber 2G+ geht erneut nicht von den Ungeimpften, sondern von den Ungetesteten aus. Denn wer geimpft ist, hat lediglich eine insgesamt niedrigere Wahrscheinlichkeit, das Virus in sich zu tragen. Wer getestet ist, hat unabhängig vom Impfstatus eine relativ hohe Sicherheit, aktuell nicht ansteckend zu sein. Ein legitimer Vergleich wäre daher nicht der zwischen 2G+ und 3G, sondern dann zwischen 2G+ und 3G+, wobei Letzteres bedeutet, dass alle unabhängig vom Impfstatus getestet werden. Dann bietet wieder beides gleichviel Sicherheit, so dass eine Ungleichbehandlung Willkür wäre.

2) Mittlerweile ist der Anteil der Bereiche, Veranstaltungen und Einrichtungen deutlich gestiegen, in denen der/ die Verantwortliche vor Ort nicht mehr frei zwischen 2G, 3G und 0G wählen kann. Insofern entfallen viele der in Abschnitt 3 genannten Argumente gegen 2G, allerdings zusammen mit denen für 2G, denn dies wird nun vorrangig deshalb umgesetzt, weil es durch Gesetz oder Verordnung vorgegeben ist.

Und in der Tat hört man die von mir im November beispielhaft aufgezählten Argumente für die Anwendung von 2G auch inzwischen immer seltener. Wo sie doch noch aufgefahren werden, gelten allerdings die Gegenargumente m.E. unverändert, nur dass die Begründungspflicht jetzt auch hier den Staat als Problem-Verursacher trifft. Die Überschreitung seiner Kompetenzen aus Sicht der Barmer Theologischen Erklärung (Art. 5) erreicht damit einen neuen Höhepunkt.

3) Ich danke sehr herzlich allen Absendern von konstruktiven Rückmeldungen.

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