Kristina Schröder, ehemalige Bundesfamilienministerin, hat am 20. Juni 22 in der Welt – leider hinter der Bezahlschranke – einen Beitrag zur Rolle der Kirchen in der Coronazeit veröffentlicht.
»Die Kirchen waren in der Pandemie eine Enttäuschung«, so titelt die Zeitung in der Überschrift.
»In der Flüchtlingspolitik scheuen sich die Kirchen nicht vor politischer Kritik und Einmischung. Geht es um Corona-Maßnahmen, sind die Kirchen jedoch auffallend still. Dabei hätten gerade Kinder, Jugendliche und ihre Familien lautstarken Beistand gebraucht.«
So beginnt Schröder ihren Artikel, um gleich auf ein Erlebnis beim einem kürzlich erlebten Konfirmationsgottesdienst zu sprechen zu kommen:
Die Worte des Pastors seien anrührend gewesen: Niemand könne den Konfirmanden ihren Platz bei Gott streitig machen.
Nur: »Es sei denn, du hast keinen Impfausweis dabei.« Offenbar ein Verwandter von Schröders Mann war direkt vor dem Beginn des Gottesdienstes des Kirchenraums verwiesen worden. Er hatte seinen Impfausweis nicht dabei. Nicht nur, dass dieser eigentlich keinen hohen Aussagewert hat. Nein, eigentlich werden derartige Nachweise inzwischen nirgendwo mehr gefordert. Aber die Gemeinde hatte sich doch für eine derartige Auflage entschieden:
»Sie folgt damit einem Verantwortungsbegriff, der sich während der Pandemie weitgehend durchgesetzt hat: Als besonders verantwortungsbewusst gilt der, der besonders viele Schutzmaßnahmen möglichst rigoros umsetzt. Und der auf die lange Zeit ja sehr drastischen staatlichen Vorgaben freiwillig noch mal eine Schippe drauflegt. Und so wurde in meinem Freundeskreis bis vor wenigen Wochen von einer Konfirmandin verlangt, getestet zum Unterricht zu kommen, dort mit Abstand zu sitzen und dennoch eine FFP2-Maske zu tragen.
Der Pfarrer, der dies unter Beifall oder zumindest Schulterzucken vieler Eltern angeordnet hatte, konnte so ruhig schlafen gehen: Sollte es unter diesen Bedingungen doch zu einer Infektion kommen, wird ihm niemand einen Vorwurf machen können. Er hat alles getan, was er konnte.
Aber Verantwortung hat er damit gerade nicht übernommen. Sondern die übernimmt der, der abwägt, was er mit diesen Maßnahmen auf der sozialen, psychischen und pädagogischen Ebene anrichtet. Der das extrem geringe Risiko von Jugendlichen für einen schweren Verlauf betrachtet und auch, wie viele Gemeinschaftserlebnisse Jugendlichen in den letzten zwei Jahren unwiederbringlich genommen wurden.
Und der sich dann für einen moderaten Weg entscheidet, der den Jugendlichen neben Infektionsschutz auch eine möglichst unbeschwerte Zusammenkunft zu ermöglichen versucht. Das Risiko, dass es hier zu einer Infektion kommt, ist sicher etwas höher, dieser Pfarrer findet vielleicht schlechter in den Schlaf. Aber genau das bedeutet Verantwortung: Auch bewusst ein Risiko einzugehen, wenn man nach sorgfältiger Abwägung aller Zieldimensionen zu dem Ergebnis kommt, dass es insgesamt mehr Nutzen als Schaden bringt.
Genau diese Verantwortungsübernahme in Form einer mehrdimensionalen Betrachtung der Zieldimensionen habe ich als Christin von der Kirche während der Pandemie immer wieder vermisst. Dabei wäre dies doch eigentlich ihre originäre Aufgabe, wer, wenn nicht sie, weiß, dass der Mensch »nicht vom Brot allein« lebt – und eben auch nicht allein von physischer Gesundheit?«
Christina Schröder bringt damit auf den Punkt, was tatsächlich auch viele Pastorinnen und Pastoren in den letzten zwei Jahren und mehr belastet hat. Die Angst der anderen ist zu berücksichtigen, allerlei Gefährdungen sind im Blick zu behalten – und daneben aber auch der Anspruch, Menschen Nähe zu schenken, Nähe zu organisieren, die Nähe Gottes in der nahen Gemeinschaft zu erleben.
Christina Schröder weiß auch, dass es in der Anfangsphase der Pandemie schwierig war, die Dinge richtig abzuwägen, weil zu viel noch unbekannt war.
»Aber dann hätte ich gerade von meiner Kirche erwartet, dass sie offen um diese Abwägung ringt, die Dilemmata ausspricht und auch benennt, was Menschen damit angetan wurde – und zwar vor allen denen, deren Leid sich nicht durch staatliche »Überbrückungshilfen« lindern ließ: den Sterbenden, ihren Angehörigen, den alten Menschen in den Heimen, den psychisch Labilen, den Opfern häuslicher Gewalt, den Kindern und Jugendlichen, den Frauen allein im Kreißsaal und den Vätern vor der Tür, den Drogenabhängigen und Obdachlosen.
Und dass sie sich als Anwältin dieser Gruppen versteht und jeden einzelnen Tag darüber wacht, ob deren Beschränkungen wirklich immer noch notwendig sind.«
Schröder führt schließlich ein Zitat des ZDF-Chefredakteurs Peter Frey, an, die Kirchen seien bereitwillig staatsloyal gewesen.
»Die Entschlossenheit, keine Sonderrolle für sich zu fordern, ist so groß, dass sie dabei auch ihre Kernaufgaben vernachlässigt, nicht nur im liturgischen Angebot, sondern auch in Fürsorge und Beistand für die von der Pandemie bedrängten Menschen«, zitiert sie Frey weiter.
Nur bei der Durchführung der großen Festgottesdienste habe es wohl doch etwas Widerstand gegeben, nachdem man Ostern 2020 das Schließen der Gotteshäuser noch bereitwillig akzepterit hatte.
Aber es wären eben noch viele andere gewesen, für die die Kirche sich anders als in vorsichtigem Ton hätte einsetzen müssen: Die in Einsamkeit Sterbenden, die Isolierten in den Heimen, die Kinder usw. Sie tat es tatsächlich hin und wieder – aber eher indem diese Situationen und Schicksale bedauerte, meint Schröder.
Der Artikel endet mit einer klaren Ansage:
»Aber bei all dem Bedauern den Mut zur klaren und lauten politischen Ansage, dass das so nicht weitergehen darf?
Ich habe während der Pandemie nichts Derartiges von den Kirchen vernommen und auch jetzt bei eingehender Recherche nichts gefunden. Dabei scheuen die Kirchen bei ihrem »Sozialwort«, bei Einlassungen zur Flüchtlingspolitik oder gar beim Kirchenasyl ja sonst keine klaren politischen Positionierungen.
Diesen Mut hatten sie ausgerechnet bei den schwersten Grundrechtseinschränkungen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht. Darüber war und bin ich enttäuscht – und hoffe auf eine innerkirchliche Aufarbeitung. Denn bei aller Kritik, diese Fähigkeit zur Selbstreflexion, die traue ich beiden Kirchen in Deutschland immer noch zu.«
Es wäre jetzt nur zu fragen, wer diese Fragen wo einbringen kann und will. Nötig wäre es allemal!