Corona: Entscheidungen unter Unsicherheit und Handlungsdruck? Eine Replik. (Wichard v. Heyden, Pfarrerblatt 4/25, S. 225-226)

Mein Artikel zur Corona-Aufarbeitung führte zu kritischen Einwürfen. Häufig wird argumentiert: »Gesichertes wissenschaftliches Wissen lag während der Pandemie noch nicht vor, nur unterschiedliche Einschätzungen. Die Politik kann darauf aber nicht warten.«

Dagegen: »Entscheiden unter Unsicherheit« prägt immer Teile des Lebens. Feuerwehr und THW haben für das Handeln unter der Bedingung begrenzten Wissens Strategien, die sie proben: Wer tut was wann unter welcher Berücksichtigung? Nur so wird im Notfall sicher gehandelt.

Das gab es auch hier: Der Nationale Pandemieplan von 2005 regelt klipp und klar die methodischen Schritte.[1] Irrationalität und Willkür sind zu vermeiden. Im März 2017 hatten Bund und Länder die heute noch gültige Aktualisierung beschlossen. Am 4. März 2020 gab es eine weitere Ergänzung. Der Pandemieplan gibt vor, wie Wissenschaft, Politik und Gesundheitsämter im Fall der Fälle vorzugehen haben. Anstatt genau das zu tun, hieß es, das Virus sei völlig neu. Man wisse nicht damit umzugehen. So wurde eine Sondersituation veranschlagt. Alle Methodik, die exakt dafür entwickelt worden war, wurde ausgehebelt. Der Lockdown stand wie das meiste, was dann folgte, nicht im Pandemieplan. Wir lesen heute in den Coronaprotokollen, dass das RKI intern entsprechend skeptisch war.

Der Hinweis auf das unsichere Wissen von damals läuft gerade angesichts der jetzt vorliegenden Protokolle ins Leere. Es gab in unserer obersten Gesundheitsbehörde begrenztes, aber ausreichendes Wissen. Dieses ergab sich aus methodisch stringenter Arbeit anhand der jeweils neusten und besten Daten. Warum wurden diese Erkenntnisse nicht mit der Öffentlichkeit und größeren Teilen der Politik geteilt? Hier braucht es Aufklärung. Das gilt auch für die wahrscheinliche Laborherkunft des Virus, die nach neueren Berichten wohl schon Anfang 2020 durch den BND im Kanzleramt bekannt war. Warum wurde das bis in den März 2025 unter Verschluss gehalten?[2]

Noch einmal: Sicheres Wissen von damals kann man heute in den RKI-Files nachlesen.

Damals konnte man sicheres Wissen z.B. in den wöchentlichen Berichten des Grippe-Webs[3] und der Arbeitsgruppe Influenza des RKI finden.[4] Beides ist über die Seiten des RKI bis heute öffentlich abrufbar. Das System erfasste auch SarsCov2. Es deutete keine allgemeine epidemische Gefahr an. Die Krisenstabsprotokolle des RKI zeigen, dass man sich dazu auch intern regelmäßig austauschte. Am Tag nach Lockdownbeginn, 24.3.2020, heißt es gleich zweimal mit Bezug auf die Sentineldaten: »Virologische Ergebnisse legen nahe, dass Sars-Cov-2 nicht breit zirkuliert«.[5] Ministerium und Kanzleramt waren informiert.

Der R-Wert wird ebenfalls vom RKI berechnet und veröffentlicht.[6] Er zeigt, ob eine Epidemie sich exponentiell ausbreitet oder gar wieder abnimmt. Kanzlerin Merkel hatte am 16. April 2020 die Verlängerung des ersten Lockdowns mit dem R-Wert begründet.[7] Sollte es gelingen, unter 1 zu kommen, habe man das Ziel erreicht. Wenige Tage später veröffentlichte die WELT den Hinweis, dass exakt dies absurderweise schon zum Zeitpunkt des Lockdownbeginns am 23. März eingetreten war.[8]
Daraufhin fokussierte sich die Argumentation auf »Inzidenzen«. Diese beruhten auf Einschätzungen, für die es keine Richtgröße gab. Das RKI hielt intern fest: »Die Inzidenz-Grenzwerte sind willkürliche politische Werte.«[9] Zudem wurden die gemessenen Daten nicht in Bezug zur Testmenge gesetzt. So entzogen sich die ständig steigenden Zahlen jeder methodischen Kontrolle. Der Eindruck permanent wachsender Gefahr verfestigte sich.

Aus Mutmaßung und unsystematischer Datengenerierung nährte sich eine omnipräsente Angst. Am Ende war fast jedes Mittel recht und konnte durchgesetzt werden. Noch im Nachhinein gilt vielen die Ausflucht als Argument: »Man wusste ja nicht genug«. Genau das stimmt nicht. Zwar gab es unterschiedliche Einschätzungen. Das ist normal. Ein politischer Handlungsdruck ergab sich daraus sicher nicht. Denn nicht nur das RKI, auch etwa der Virologe Drosten hielt in Übereinstimmung mit der breiten Fachwelt das Virus bis Anfang/Mitte März 2020 für relativ harmlos. Wo kamen der Sinneswandel und der Handlungsdruck her? Lag es an der medialen Berichterstattung aus Italien? War es Angst in der politischen Spitze? Wer entschied, gerade die gut abgesicherten Erkenntnisse des methodisch versierten RKI damals nicht, nur teilweise oder bis zum Gegenteil verzerrt zu veröffentlichen?

Wie man mit begrenztem Wissen ausreichend sicher handelt, zeigte der schwedische Chef-Epidemiologe Anders Tegnell. Im Gegensatz zum RKI war er politisch unabhängig.[10] Er hielt sich an den festgelegten Pandemieplan.[11] Dafür galt er in Deutschland als Gefährder. Dennoch ging es weder um Verleugnung noch Verharmlosung des Virus oder seiner Gefährlichkeit. Nach drei Jahren hatte Schweden deutlich weniger Tote durch Corona.[12] Ohne Freiheitsbeschränkungen, Angstmachen und Aggression. Und ohne die Nebenwirkungen der Maßnahmen von überfüllten Kinderpsychatrien über Suizide, einsames Sterben bis hin zu einem Klima der Spaltung und der gegenseitigen Denunziation. Der grundlegende Vertrauensverlust in die tragenden Institutionen wurde dort vermieden. Warum war das bei uns so anders? Worin hätte ein relevanter Beitrag der Kirchen bestehen können oder müssen? Was können wir heute tun?

Zum Schluss: Einige, wohl auch auf Ebene der Kirchenleitungen, haben sich über den ersten Teil meines Artikels geärgert. Sie werden weder die vorliegende Replik noch den bislang nicht veröffentlichten zweiten Teil besser finden. Mancher hält meine Darstellung für grundfalsch. Gemeinhin gilt: was grundsätzlich falsifizierbar ist und doch nicht argumentativ entkräftet werden kann, ist als gültig anzusehen. Daher muss es jetzt darum gehen, sachlich zu zeigen, dass oder in welcher Hinsicht meine Argumente, Thesen oder Quellen falsch sind. Wo dies geschieht, lerne ich gerne dazu. Wo nicht, möge die Gegenseite dasselbe tun. Das gemeinsame Ziel dabei wäre: Wir als Kirche arbeiten auf, damit nie wieder ein „neues Normal“ möglich wird.


[1]   https://www.gmkonline.de/documents/pandemieplan_teil-i_1510042222_1585228735.pdf
https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/174/29x3vlR5Miwxa6.pdf?sequence=1&isAllowed=y

[2]   https://www.tagesschau.de/inland/bnd-corona-ursprung-wuhan-labor-bundesregierung-100.html

[3]   https://www.rki.de/DE/Themen/Forschung-und-Forschungsdaten/Sentinels-Surveillance-Panel/GrippeWeb/grippeweb-node.html

[4]   https://influenza.rki.de/Wochenberichte.aspx

[5]   https://www.rkileak.com – RKI-Protokoll vom 24.3.20, TOP 7, S. 6f.

[6]   https://github.com/robert-koch-institut/SARS-CoV-2-Nowcasting_und_-R-Schaetzung/blob/main/Archiv/Nowcast_R_2021-03-17.csv.

[7]   Die skurrile Situation der Pressekonferenz: https://www.youtube.com/watch?v=22SQVZ4CeXA. Bis zu diesem Zeitpunkt war der R-Wert grundlegender Bestandteil der Regierungs-Argumentation.

[8]  https://www.welt.de/wirtschaft/plus207392523/Uebersterblichkeit-sinkt-Fuer-den-Lockdown-gehen-der-Regierung-die-Argumente-aus.html

[9]   https://www.rkileak.com RKI-Protokoll vom 9.4.21, S. 3.

[10] Auch für den ehemaligen RKI-Chef Wieler ist die politische Weisungsgebundenheit des RKI heute problematisch. Er mahnt eine grundlegende Reform an:  https://www.welt.de/politik/deutschland/article255766208/Weisungsgebunden-an-die-Politik-Lothar-Wieler-mahnt-RKI-Reform-an.html

[11] https://taz.de/Schwedens-Staatsepidemiologe-Tegnell/!5673457/

[12] https://www.tagesspiegel.de/wissen/vorzeitige-todesfalle-in-der-coronapandemie-ausgerechnet-schweden-schneidet-in-europa-am-besten-ab-13348129.html