Warum nur empfindet man es als eine kleine Sensation, wenn einer der international am meisten zitierten Medizinwissenschaftler der Welt in einer deutschen Tageszeitung zum Thema Corona interviewt wird?
Natürlich: Auch die WELT muss ein bisschen Framing veranstalten und davon sprechen, dass er „lange Zeit als Lichtgestalt“ gegolten habe, nun aber als „Provokateur“ auftrete. Andererseits: Der Epidemiologie Prof. Ioannidis äußert sich sehr vorsichtig. Und: Seine Haltung ist jedenfalls sehr differenziert. Ioannidis bietet eines der vielen, vielen Beispiele dafür, dass die weltweite Kritik an den Maßnahmen wie auch an der zugrundeliegenden Ist-Analyse je nach Fachgebiet und Standpunkt sehr unterschiedlich sein kann. Es wird vermutlich nicht einfach die eine oder andere Meinung unbeschränkt recht haben. Es käme auf die Diskussion an und auf ein wissenschaftsbasiertes Vorgehen im Diskurs! – Es wäre an der Zeit, dass auch ein derartiges wissenschaftliches Schwergewicht von der politischen Führung in Deutschland einbezogen wird, wenn es darum geht, die Situation zu beurteilen. Die Entscheidungen sind natürlich am Ende politisch zu treffen – aber das gilt sowieso – und der ständige Rückzug auf angeblich wissenschaftsbasiertes Handeln ist und bleibt solange eine dumme aber wirksame Ausrede, solange der wissenschaftliche Diskurs eben nicht gesucht wird, sondern autoritär ausgeschaltet bleibt.
Im Folgenden einige Auszüge aus den Äußerungen von Dr. Ionannidis:
„Schon damals [gemeint: Frühjahr 2020] war klar: Wir brauchen keine drakonischen Maßnahmen. Sie bringen keinen zusätzlichen Nutzen. Social Distancing, Masken, die Vermeidung von Menschenansammlungen, Hygieneregeln, all das ist sehr sinnvoll. Darüber hinaus muss man die Risikogruppen schützen, sonst kommt es zu einem Massaker. Schließlich handelt es sich um ein neues Virus, es gibt in der Bevölkerung keine oder kaum Immunität dagegen.“
„Aber da, wo sich das Virus weit verbreitet hat, kann ein harter Lockdown die Situation sogar verschlimmern.“
„Schädlich ist es zum Beispiel, die Mobilität einzuschränken, etwa durch abendliche Ausgangssperren, wie sie in vielen europäischen Ländern gelten. In der begrenzten Zeit sind dann mehr Leute gleichzeitig im öffentlichen Raum unterwegs. Sie stecken sich so vermehrt an und sitzen anschließend vermehrt in geschlossenen Räumen zusammen.“
„Im Februar 2020 war ich noch unbedingt für einen sofortigen Lockdown. Wir wussten damals ja noch nicht, ob in der ersten Saison 10.000 oder 40 Millionen sterben werden. Aber je mehr Informationen man gewinnt, desto mehr muss man sein Handeln anpassen.“
„Mein Rat wäre: die Leute wieder an Social Distancing und Masken zu erinnern – und außerdem mehr zu testen. Auf keinen Fall Ausgangsbeschränkungen, Schulschließungen oder Ähnliches. Auf lange Sicht verschlimmern solche gesetzlichen Einschränkungen die Lage. Während einer aktiven Welle müsste man die Pflegeheime noch besser schützen und die sonstigen Risikogruppen zu noch mehr Social Distancing aufrufen. Und man müsste sie dabei mehr unterstützen, damit sie beispielsweise nicht zur Arbeit gehen oder einkaufen müssen. Ein perfektes Rezept habe ich allerdings nicht. Wir müssen wachsam bleiben.“
Auf die Frage, ob der Lockdown nicht doch in mehreren Ländern die entscheidende Maßnahme gewesen sei, die Krankheitswelle zu brechen: „Wenn ich mir das Timing der Maßnahmen ansehe, dann glaube ich nicht, dass der Lockdown einen Unterschied gemacht hat. Wir werden das noch genauer analysieren, wie schon bei der ersten Welle. Aber vorläufig scheint es, als habe der Lockdown sogar einen negativen Effekt gehabt. Fallzahlen sinken auch ohne solche Maßnahmen wieder.“