Wenn es um die Bedingungen der Ausbreitung einer Virusinfektion geht, dann haben Neuseeland und Deutschland nur wenig gemeinsam. So leben in Deutschland zum Beispiel 231 Einwohner auf einem Quadratkilometer, in Neuseeland sind es gerade einmal 17,5. Deutschland hat Landgrenzen zu neun Ländern, und über diese Grenzen kommen täglich 200.000 Berufspendler ins Land, während 300.000 aus Deutschland täglich in eins dieser Länder zur Arbeit pendeln.
Neuseeland hingegen hat bekanntlich keine Landgrenzen zu anderen Ländern. Betrachtet man insbesondere eine Infektionskrankheit wie Covid-19, bei der insbesondere ältere Menschen schwer erkranken und sterben können, ist darüber hinaus wichtig, dass in Deutschland etwa 22 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt sind, während es in Neuseeland nur 15 Prozent sind.
Ein Virus kann sich in einer dichten Bevölkerung viel besser und schneller ausbreiten als in einer dünn übers Land verteilten Bevölkerung, zumal, wenn täglich Menschen aus vielen Gründen über die Grenzen in einer eng verknüpften, dicht besiedelten Region wie Europa hin und her pendeln. Der Schaden, den dieses Virus anrichten kann, ist in einer älteren Bevölkerung viel größer als in einer vergleichsweise jungen.
Bedenkt man dies, so ist völlig klar, dass ein Vergleich der Zahlen der Krankheits- und Todesfälle in Neuseeland und in einem europäischen Land wie etwa Deutschland nichts darüber aussagt, ob die politischen Maßnahmen, der Umgang der Regierungen und der Menschen im Alltag mit der Pandemie, in dem einen Land besser seien als in dem anderen. Es ist gar nicht überraschend, dass Neuseeland von der Pandemie fast nichts mitbekommt, während Deutschland enorm damit zu kämpfen hat. Allerdings zeigen die letzten Wochen, dass auch in Neuseeland die No-Covid-Strategie langfristig nicht erfolgreich ist.
Dennoch wurden in den vergangenen Monaten immer wieder die geringen Infektions- und Todesfallzahlen in Neuseeland als Argument dafür herangezogen, dass Deutschland von Neuseeland hätte lernen können. Man meint, Neuseeland sei aufgrund dieser Politik besser durch die Pandemie gekommen als etwa Deutschland, und deshalb solle Deutschland zukünftig einen ähnlichen Kurs fahren wie Neuseeland.
Aber ganz davon abgesehen, dass es wohl nicht die No-Covid-Politik der neuseeländischen Regierung war, die dafür gesorgt hat, dass es dort kaum Infektionen und kaum Todesfälle gab, sondern schlicht die völlig anderen Bedingungen für die Ausbreitung von Corona-Viren, stellt sich die Frage, was es überhaupt heißt, dass ein Land gut durch die Pandemie gekommen ist, und wie eine Politik überhaupt vorgehen sollte, damit ein Land eine Herausforderung wie solch eine Pandemie gut bewältigt.
Falsche Maßstäbe
Neuseeland ist nicht das einzige Land, von dem behauptet wird, dass es aufgrund einer bestimmten effektiven Politik besonders gut durch die Pandemie käme. In seinem neuen Buch „Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft“ schreibt der bekannte Münchener Soziologe Armin Nassehi allen Ernstes, es sei „offensichtlich gerade China besonders gut gelungen, mit der Covid-Krise umzugehen und viel früher als europäische Länder oder die USA Lockdown-Maßnahmen wieder aufzuheben. Was China offensichtlich gelungen ist, scheint eine sehr effektive Bekämpfung des Virus zu sein“.
Maßstab für diesen Vergleich zwischen China auf der einen und den europäischen Ländern sowie den USA auf der anderen Seite ist für Nassehi das, was auch für die No-Covid-Befürworter der Maßstab ist: die Todesfallzahlen. „Zwischen Bewunderung und Schaudern“ nimmt der Soziologe, der bekanntlich auch ein wichtiger Politikberater in Deutschland ist, „zur Kenntnis, dass es offensichtlich Alternativen zum liberalen Modell der Herstellung gesellschaftlicher Kontinuität“ gäbe.
Die Zahl der Todesfälle kann aber weder bei einer Pandemie, noch bei irgendeiner anderen Naturkatastrophe die Maßzahl für die Einschätzung sein, wie gut eine Gesellschaft mit solchen Herausforderungen umgehen kann. Das liegt nicht nur daran, dass solche Ereignisse jede Gesellschaft anders und in jeder konkreten Gesellschaft auf unterschiedliche Bedingungen treffen.
Striktes Einreisemanagement
Trotz aller Versuche, Tod und Leid zu vermeiden, und trotz der unbestreitbaren Aufgabe der gesellschaftlichen Institutionen, die Bevölkerung vor Leid und Tod so weit es geht zu schützen, ist es eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass Sterben und Leiden in Krankheitswellen und Katastrophen auch ertragen werden müssen. Eine Gesellschaft kann sich dem immer nur so weit entgegenstellen, wie sie damit nicht ihre eigenen Bedingungen untergräbt.
Es gibt politische Maßnahmen gegen Pandemien, die sich für eine freie Gesellschaft verbieten müssen – und umgekehrt kann eine Pandemie für eine unfreie Gesellschaft und für die darin herrschenden Institutionen durchaus eine willkommene Gelegenheit sein, autoritäre, zentralistische, undemokratische Strukturen des Überwachens und Durchregierens zu stärken und zu zementieren. Wer da mit Bewunderung, selbst wenn sich Schaudern hineinmischt, nach China schaut, sollte vielleicht seine Rolle in der Politikberatung eines freien und demokratischen Landes überdenken.
Ziel einer demokratisch legitimierten Politik in einer freien Gesellschaft muss es in jeder Krise sein, die Prinzipien von Demokratie und Freiheit durch die Krise zu retten – dazu gehört auch, die medizinische Versorgung schnell und effizient zu organisieren, wissenschaftliche Einsichten mit gesellschaftlichen Erfordernissen und ökonomischen Möglichkeiten abzugleichen und demokratisch legitimierte sowie von der Bevölkerung akzeptierte Maßnahmen umzusetzen, sodass Leiden und Sterben so weit wie möglich in Grenzen gehalten werden.
Dazu gehört auch, dass die Gesellschaft zusammengehalten und nicht gespalten wird, dass die Stimmung zuversichtlich bleibt und die Legitimität der politischen Institutionen nicht fragwürdig wird. Wenn das alles zusammen halbwegs gelingt, dann ist die Gesellschaft gut durch die Krise gekommen – die Zahl der Infizierten und die der Todesfälle sind dabei nicht unwichtig, aber sie sind nicht alles.
Aus dieser Perspektive lohnt sich dann ein erneuter Blick nach Neuseeland, nicht, um die dortigen Maßnahmen zu bewerten, denn dazu müsste man die Gesellschaft dort viel besser kennen, als sie der Autor dieses Textes kennt. Was man aus den Medienberichten aus Neuseeland aber erahnen kann, sind einige Konsequenzen der dortigen Politik, deren Relevanz für unsere Situation hier in Deutschland man bedenken kann.
Die entscheidende Maßnahme, die zu den geringen Infektionszahlen in Neuseeland geführt haben dürfte, ist das strikte Einreisemanagement. Alle, die ins Land wollten, mussten sich einer zweiwöchigen Quarantäne unterziehen. Das für sich genommen ist aber gar nicht entscheidend – entscheidend war, dass die Kapazitäten von Quarantäneeinrichtungen des Staates so gering gehalten wurden, dass eine tatsächliche Einreise für die meisten Menschen, die dies beabsichtigten, gar nicht möglich war. Es würde den Rahmen dieses Beitrags bei Weitem sprengen, von dem Leid und den Folgen dieser drastischen Beschränkung für viele Neuseeländer zu berichten. Die große Neuseeländische News-Plattform „stuff“ hat in den letzten Wochen viele Berichte von Einzelschicksalen veröffentlicht.
Paradox der modernen Demokratie
Es ist fraglich, ob ein solches Regime für eine freiheitliche Gesellschaft, die sich an den Grundsätzen der Menschenwürde orientiert, auch nur für einige Zeit akzeptabel sein kann. Der Autor dieser Zeilen hält die dortigen Verfahren angesichts der hervorragenden Ausgangsbedingungen, die Neuseeland in der Pandemie hatte, schlicht für inakzeptabel. Wenn man ins Feld führt, dass Neuseeland nun einmal nicht so ein leistungsfähiges Gesundheitssystem hat wie Deutschland, insbesondere mit viel weniger Intensivbetten, dann muss sich die Kritik auf diesen Missstand richten. Keineswegs kann dieser umgekehrt zur Rechtfertigung so drastischer Maßnahmen dienen.
Von Unterstützern der neuseeländischen Politik wird ins Feld geführt, dass diese Maßnahmen aber von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung dort gutgeheißen werden (eine deutsche und abgewandelte Version des Originaltextes gibt es hier). Das mag sein und ist sicherlich nicht bedeutungslos. Sicherlich sind die meisten Menschen dort auch nicht persönlich von den Maßnahmen betroffen. Menschenwürdige Gesellschaft heißt aber immer auch, sich für das Einzelschicksal eines fremden Betroffenen zu interessieren und dessen Leid zum Maßstab zu machen. Es ist das Paradox der modernen Demokratie, die nicht Tyrannei der Mehrheit sein soll, dass gerade nicht die Zustimmung der Mehrheit entscheidend ist, sondern das Wohlergehen der legitimen Minderheiten.
Stellt man sich eine vergleichbare Quarantäne-Struktur in Mitteleuropa vor, wird schnell klar, dass diese angesichts der notwendigen Reisetätigkeiten innerhalb eines Landes und zwischen den Ländern der EU einerseits niemals umsetzbar und andererseits menschlich und gesellschaftlich nicht vertretbar, nicht akzeptabel wäre. Das kann man von Neuseeland lernen: schon unter den Modellbedingungen des dünn besiedelten Inselstaates war das Quarantäne-System dysfunktional, weil es zu keinem Zeitpunkt ermöglicht hat, dass jemand, der aus familiären, persönlichen oder geschäftlichen Gründen dringend ins Land musste, dies auch nur innerhalb von Wochen gekonnt hätte.
Ein anderes Problem, das sich am Beispiel Neuseelands zeigt, ist der Verlauf der Impfkampagne. Als Reaktion auf einen früheren Text wurde dem Autor dieser Zeilen mehrfach in Mails aus Neuseeland vorgeworfen, er verkenne, dass Neuseeland ja erst so spät an Impfstoff gekommen wäre, weil die Infektionszahlen so gering seien. Man sei dadurch erst so spät mit den Lieferungen an der Reihe gewesen. Eine Nachfrage, wer denn die internationale Institution gewesen sei, die diese Verteilung von Impfstoffen nach solchen Prioritäten vorgenommen habe, blieb unbeantwortet.
Später Impfstart
So kann man den späten Start der Impfungen in Neuseeland auch als Indiz dafür sehen, dass die Bereitschaft, Impfstoff einzukaufen, Impfungen zu organisieren und schließlich auch die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, geringer ist, wenn man sich in Sicherheit wiegt. Erst, als es aufgrund eines Ausbruchs der Delta-Variante plötzlich zu einem drastischen Anstieg der Infektionszahlen kam, startete die Impfkampagne in Neuseeland durch. Vergleichbares ist auch bei der Implementierung einer No-Covid-Strategie in Europa denkbar – trotz hoher sozialer Kosten einer solchen Strategie hätte sie vermutlich die Impfkampagne geschwächt.
Die Beispiele zeigen, dass es tatsächlich sinnvoll ist, sich mit dem Verlauf der Pandemie in verschiedenen Weltregionen, unter verschiedenen Bedingungen und bei verschiedenen politischen Maßnahmenpaketen zu beschäftigen – nicht, um diese zu bewerten, sie einfach als Vorbild oder als Beweis für irgendetwas zu nehmen, sondern um Szenarien und mögliche Konsequenzen für die eigene Situation zu durchdenken. Ob die eine oder die andere Strategie eine Gesellschaft letztlich besser oder schlechter durch die Pandemie bringt, lässt sich nur konkret im jeweiligen lokalen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Umfeld beurteilen.
Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass wir in einem Jahr sagen werden, dass Deutschland sehr gut durch die Pandemie gekommen ist, weil die politischen Strukturen nicht zusammengebrochen sind, weil die Wirtschaft nicht in eine langwierige Krise geraten ist, und weil der gesellschaftliche Zusammenhalt am Ende doch nicht so gelitten hat. Wenn es so kommt, dann wäre es gut, wenn man auch laut ausspricht, dass dies am föderalen Wettbewerb, an den aufwendigen Diskussionen, an der Vielfalt der öffentlichen Debatte, an Kontroversen und Demonstrationen gelegen hat, die uns vor Extremen und vor einem Durchregieren bewahrt haben, sodass wir die Grundprinzipen von Freiheit, Menschenwürde und Demokratie auch in anstrengenden Zeiten retten konnten.