Die Sommerverwandten – mein persönliches Dilemma

In der historischen Fernsehansprache am 18. März 2020 bat unsere Kanzlerin das Volk: „Glauben Sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen…. Wir sind eine Demokratie. Wir  leben nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung.“

Und damit fuhr der in der Psychologie der Massen einzigartige Zug der Corona Panik los. Staunend bleib ich auf dem Bahnsteig stehen. Von meinen Verwandten hörte ich jetzt Warnungen wie, „Bergamo“ und „exponentielle Steigerung“. Es war aber zu spät, ohne Fernseher konnte ich den Zug der Panik nicht mehr erreichen.

Im Gegenteil, das Nachlesen in den offiziellen Statistiken trennte mich immer mehr von meinen Verwandten. Ich fand sie nicht, die exponentielle Steigerung, die den Importschlager des Chinesischen Lockdowns (Euphemismus für Ausgangssperre) begründen sollte. In der Kalenderwoche 11 wurden 129.291  Menschen auf Covid getestet, davon waren 7.502 positiv und in der Kalenderwoche 12 wurden 374.534 getestet, davon waren 25.886 positiv. Eine Steigerung von 5,8% auf nur 6,9 %. Exponentielles Testen? Die Tageszeitung mit den vielen aufaddierten Zahlen bestellte ich dann auch gleich ab.  Ohne Fernseher und Zeitung stand ich jetzt ganz allein am Bahnsteig der Verwunderung. Eine Freundin meinte, dass sie solche Leute wie mich Corona Nazis nennt. Ich lernte dazu, hinterfragen heißt Verschwörer, Nazi und Leugner sein… Und meine Verwandten? Sie befanden sich in Lebensgefahr durch die Jahrhundertseuche. „Was ist, wenn Deine Tochter ein Beatmungsplatz benötigt?“ fragte mich eine Verwandte, die im Krankenhaus arbeitete und gerade in der Hoch Phase der Pandemie Ihre Überstunden abbummelte.

Um die Eingriffe in die Grundrechte weiter zu begründen kamen neue Erzählungen unserer Kanzlerin hinzu. Bis der R-Wert nicht unter „1“ sei, müsse man Alte Menschen einsperren, Kirchen, Schulen, Kindereinrichtungen und Spielplätze schließen. Ganz einfach die gesamte deutsche Gesellschaft einsperren.

Wie in der Apostelgeschichte 17,11 nahm ich das Wort bereitwillig auf und forschte täglich in der „Schrift“, ob sich’s so verhielte. Aber im Epidemiologisches Bulletin 17/2020 des Robert Koch-Instituts stand auf Seite 14, dass der R-Wert schon zur Zeit der Schulschließungen im freien Fall war und seit dem 21. März 2020 unter 1 lag. Der harte Lockdown mit Ausgangssperren und Betriebsschließungen wurde erst danach, am 23. März 2020 verkündet.

Je mehr ich nach Evidenz suchte, umso weniger fand ich sie und umso mehr bekam ich schlaflose Nächte. Meine 90-jährige Mutter wurde im Altenheim über 11 Wochen in ihr Zimmer eingesperrt. Für mich war Isolationshaft  noch immer Vernichtungshaft und eine Form der Folter. Die berechtigten Schuldgefühle, sie damals nicht herausgeholt zu haben, lasten noch heute auf mir. Sie vertraute uns, hat sich auf uns verlassen und war verlassen.

Wo war der Aufschrei, die breite Diskussion über die unterschiedlichen Wertemaßstäbe. Was war wichtiger, Freiheit oder Zwangsmaßnahmen zum Gesundheitsschutz? Für meine Verwandten war es größtenteils klar: Die Zwangsmaßnahmen seien einzuhalten, gerade auch aus christlicher Sicht zum Schutz der Nächsten.

Als Mitglied eines Kirchenvorstandes bekam ich von meiner ev. Landeskirche in der Zeit meiner inneren Not die frohe Botschaft, dass es eine Broschüre gebe mit Hinweise zu geschlechtergerechten Formulierungen. Die Superintendentin schrieb jetzt jede E-Mail mit der Begrüßung „Liebe Lesende,“… Ansonsten waren in meiner Kirche die tiefen Nöte der Menschen, die unter diesen Corona Maßnahmen litten und die absehbaren Kollateralschäden, kein Thema. (Seitdem lösche ich auch alle E-Mails, die mit „Liebe Lesende“ beginnen sofort…ich habe einen Namen oder ein „Liebe Glaubensgeschwister“ wäre aber auch möglich.)

Zum 91. Geburtstag musste dann meine Mutter hinter einer Plexiwand sitzen. Vorsichtig wurde eine Glastür des Heimes nach draußen geöffnet und aus einigen Metern Entfernung sangen ihre Kinder und Enkelkinder auf dem Bürgersteig fröhlich ihr Geburtstagsständchen. Teilweise auch mit Stoff vor dem Gesicht. Aber meine Mutter hatte gute Augen, denn den einen oder anderen Maskierten erkannte sie sogar aus der Ferne. Danach wurde sie wieder in ihr Zimmer eingesperrt – es war ihr letzter Geburtstag. Einer Freundin sagte sie, dass es die schlimmste Zeit ihres Lebens war. Selbst die massiven Repressionen in der DDR, die sie als bekennende Christin erlebte, seien nicht so schlimm gewesen.

Es ist ein Fundament, das meine Mutter uns mitgegeben hat, dass wir in Liebe die unterschiedlichen Sichtweisen gegenseitig tragen. So ist das hier auch mein einseitiger  Erfahrungsbericht. Aber es gibt ein objektives Dilemma. Der Teil der Familie, der Sicherheit und Gesundheit bevorzugt und die Regierungsmaßnahmen befürwortet, war in den letzten zwei Jahren von November bis Ostern auf Abstand. Ganz konkret äußerte es sich jeweils Weihnachten. Drei Meter von der Haustür entfernt, wurde mit und ohne Maske sich ein gesegnetes Fest gewünscht.

Da ich ganz bewusst den Impfstatus von keinen Menschen wissen möchte und in Gottvertrauen das Lebensrisiko Mensch annehme, habe ich im letzten Winter die Diffamierungen, Beschimpfungen und Ausgrenzungen besonders schmerzlich wahrgenommen. 2 G in Kirchen, auf Veranstaltungen, im Beruf und Privat (2 G Familienfeier). Über viele Monate gab es keinen Lebensbereich, wo man als gesunder Mensch nicht ausgegrenzt wurde, es sei denn man hatte seinen gelben „Menschseinberechtigungsausweis“ dabei.

Das Problem ist jetzt nicht, dass man auf die Verwandten, die mit dem Gesundheits Hygienemaßnahmen Zug fahren und andere Sichtweisen haben, böse oder gar nachtragend ist. Im Gegenteil, es gibt hier kein moralisch besser oder schlechter – ich habe sie lieb. Jeder darf und soll seine Meinung leben. Das persönliche Dilemma für mich ist aber ganz praktisch, dass automatisch in der Zeit der Einsamkeit, Ausgrenzung und Not die Menschen und Freunde für mich eine Familie im Geiste sind, die Nähe zugelassen haben. Alles andere sind gefühlsmäßig – die Sommerverwandten.

 

Dieser Gastbeitrag ist ein persönlicher Erfahrungsbericht. Der Autor ist der Redaktion persönlich bekannt. Wir sind der Ansicht, dass gerade persönliche Beiträge für die Diskussionen und als Zeitdokumente besonders wertvoll sind.

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